Rien ne va plus
Du sitzt am Fenster und betrachtest die Welt um dich herum. Neben dir stehen leere Tassen. Einige mit Kaffeerand, einige mit Teerand, eine mit Pelz. Du sitzt schon eine ganze Weile dort. Mehr oder weniger reglos. Sprachlos. Worauf du wartest, weißt du wahrscheinlich selbst nicht, zumindest bist du dir nicht sicher. Sonst würdest du nicht warten. Du gehörst nicht zu denen, die warten, wenn sie keine Zweifel mehr haben.
Seit Stunden gehe ich in kürzer werdenden Abständen nach dir sehen. Schaue nach, wie es dir geht, versuche herauszukriegen, ob ich dir helfen kann. Irgendwie. Irgendwas. Hoffentlich bald. Ich hoffe das weniger für mich, als für dich, der Anblick deiner Augen, deiner verlorenen, beständig suchenden Augen, trifft mich, berührt mich tiefer und nachhaltiger als alles andere, was jemals war. Ich weiß nicht mehr wie lange wir uns schon kennen, Ewigkeit ist da zumindest kein all zu falscher Ansatz, doch noch nie, niemals habe ich dich oder irgendjemand anderen so verloren, verlassen, verzweifelt, ver-alles gesehen.
Meistens ändern sich die Dinge nur, wenn man gerade mal unaufmerksam ist. Da zwinkert man einmal kurz mit einem halben Auge und schon hat sich die Welt gedreht. Zweimal. Du zwinkerst nicht. Du möchtest nicht unaufmerksam sein. Keine Sekunde verpassen, exakt den Moment einfangen, in dem sich alles ändern wird. Seit ein paar Minuten erst ist mir das klar geworden. Bis eben noch dachte ich, du wartest, um zu vergessen. Doch du willst nicht vergessen, du willst alles in dich aufsaugen, speichern, bis in alle Ewigkeit in den tiefsten Ecken deines Herzens verwahren - wofür? Um später mal zu wissen, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast? Um hier sitzen zu können, solange, bis alles um dich herum mit dir trauert? Um zu verarbeiten, was passiert ist?
Ich stehe in der Küche und setze gerade frischen Tee auf, als ich merke, wie du dich an mich anschmiegst und leise, ganz leise anfängst zu erzählen. Wenn das Herz “Rien ne va plus.” sagt, fängt man an, seine Geschichte zu erzählen. Dann gibt es keine fremden Erlebnisse mehr, die wichtig scheinen, keine Nacherzählungen von alten Geschichten, einzig das eigene Leben will erzählt werden. Episode für Episode, jede Kleinigkeit, jedes Erlebnis möchte raus, frei sein, verstanden werden. Die meisten Dinge kann man erst verstehen, wenn man sie erzählt hat.
Die Teebeutel liegen noch immer auf dem Tisch und das gekochte Wasser ist schon seit langem wieder kalt geworden, es ist keine Teezeit mehr, ich bin auf der Suche nach den Fragen zu deinen Antworten.