Meandering Soul

This day is done, I'm going home.
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Wir, die Verlorenen

Ich sitze in der U-Bahn, allein mit meiner Musik, um mich herum leere, leicht eingedellte Sitzgruppen. Der Zug hat sich an der letzten Haltestelle abrupt geleert, übertage ist Party angesagt. Realitätsflucht, mitten in der Woche.

Während Thom Yorke sich kugelsicher jammert denke ich nach über diese Menschen, die nicht vor und nicht zurück können. Denen gar nicht viel mehr im Leben als die tägliche überlaute Musikdrönung bleibt. Ich bin einer von ihnen. Ich leugne es gerne, doch auch ich bin gefangen zwischen einer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit und einer Zukunft, die ungewisser nicht sein könnte. Ständig auf der Suche nach Antworten, ohne die Fragen zu kennen. Immer auf der Flucht vor den bekannten Fragen.

Nächste Station. Du steigst ein, setzt dich in die Sitzgruppe mir schräg gegenüber. Dein Gesicht sieht erschöpft aus und doch strahlst du eine Energie aus, die mir fast ein bisschen Angst macht. Ich will dich ansprechen, dich fragen, wo du her kommst, was du denkst, warum du mich faszinierst. Doch das fragt man nicht. Glaube ich.

Für die Überwachungskamera sieht die Szenerie wahrscheinlich nicht anders aus als in jedem dritten U-Bahnwagen zu dieser Uhrzeit. Für mich bleibt die Welt stehen, als sich dein Blick schweifend auf die Suche begibt und an mir haften bleibt. Es läuft keine Musik mehr. Das merke ich erst, als ich verzweifelt nach Ablenkung vor deinen fragenden Augen suche. Was willst du? Was suchst du?

Wenn ich doch nur einen Grund hätte, dich anzusprechen. Ich bin nicht der Typ, der einfach auf Menschen zu gehen kann. Will ja selbst auch meistens meine Ruhe haben. Und doch, die äußeren Umstände treiben mich. Der außer uns leere Wagen, die künstliche, gerade anstrengende Helligkeit, dein bohrender Blick. Um meine Kommunikationsbereitschaft zu signalisieren nehme ich die Kopfhörer ab. Mein Versuch deinem Blick zu begegnen scheitert kläglich. Erneuter Anlauf. Es kann doch nichts passieren. Oder doch?

Nach einer kleinen Ewigkeit schaffen es meine Augen schließlich deinen zu begegnen. Du wirkst leicht irritiert, fast so, als ob du das nicht erwartet hättest. Für einen Moment glaube ich du würdest einfach aufstehen und durch die gerade noch offenen Türen flüchten.

Ein letztes Mal ganz fest die Zähne zusammenbeißen: “Warum?”

Mehr lässt mich meine Zunge nicht sagen. Mehr muss sie auch nicht sagen, du verstehst. Du verstehst und fängst zaghaft an zu erzählen von einem dieser Leben, die so verdächtig austauschbar klingen, dass jeder der Protagonist sein könnte. Du erzählst mir mein Leben, obwohl wir uns noch nie begegnet sind. Du erzählst mir, dass du nicht mit dem Rest feiern möchtest und dass du eigentlich viel lieber in unberührter Natur leben würdest. Ich bin sprachlos.

Endstation. Wir steigen aus, gehen nebeneinander vom Bahnhof, auf der Straße trennen sich unsere Wege. “Danke.” sagst du noch, dann biegst du um die Ecke.

Ich stehe auf der Straße, allein mit unseren Gedanken, um mich herum nichts als erzählte Schicksale die trotzdem immer wieder gelebt werden sollen.

Warum?

Das Hupen eines LKWs schreckt mich auf. Gefangen in unserer Gedankenwelt bin ich mitten auf der Straße gelaufen. Mitten in der Nacht. Da kommt ja sonst niemand. Wenn mich der Fahrer nicht rechtzeitig gesehen hätte wäre ich jetzt vielleicht nicht mehr. Das komische ist, dass mir der Gedanke daran keine Angst macht.

“Geht es dir gut?”

Nicht nur der Lastwagen wurde von Gedanken verdrängt, sondern auch du. Jetzt stehst du vor mir, siehst mich mit dem selben Blick an, mit dem du vorhin in die U-Bahn gestiegen bist, fragst ob es mir gut gehe. Dabei weißt du ganz genau wie es mir geht. Wir sind uns zu nah. Wir sind der Welt zu fern. Wir werden hier bleiben für diese Nacht.

Die Stunden vergehen, wir sitzen am Straßenrand und schweigen. Ich beobachte dich. Heimlich. Du beobachtest mich auch. Offensichtlich. Einzig die Sterne könnten dazu Geschichten erzählen, aber es sind keine Sterne am Himmel zu sehen. Großstadtschicksal.

Ein paar Straßen weiter schreien sich alte Menschen an. Du suchst Schutz. Ich habe doch auch Angst. Zwar nicht vor den alten Menschen, aber davor, so zu werden. Irgendwann, irgendwo, mit irgendwem sinnlose, zu laute Argumentationen zu führen. Tagein tagaus die selbe Leier. Die fehlende Tiefe der Jugenderlebnisse ausgetauscht durch die fehlende Breite des Erwachsenenalltags.

Das Morgengrauen schleicht langsamer heran als sonst. Alles wird ein bisschen langsamer, wenn man nicht allein ist. Ob wir uns wohl wiedersehen werden fragst du. Ob das denn gut wäre frage ich zurück. Du nickst, hast verstanden, was niemand versteht. Manchmal trifft man Menschen nur ein einziges mal. Genau dann ist für einen kurzen Moment mal alles gut.

  • Published in August 2010
  • First released on August 22, 2010
  • 752 words