Meandering Soul

This day is done, I'm going home.
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Es gibt schließlich immer einen Ausweg

Sie wusste, dass es zu spät war. Sie wusste, dass sich gerade eben alles verändert hatte. Doch Cleo war anders, sie war schon immer anders gewesen, sie würde das nicht einfach akzeptieren. Es musste doch einen Ausweg geben.

„Es gibt schließlich immer einen Ausweg.“

Cleo war so tief in ihren Gedanken versunken, das sie weder ihr lautes Aussprechen der selben, noch Pauls Nachfrage bemerkt hatte. Vielleicht war das auch besser so.

Der Bahnhof um sie herum war von Leben erfüllt. Genau genommen, war er das Leben, und sie, Paul und Cleo, waren die Beobachter, die stillen Teilhaber an den Gefühlen anderer. Nicht jeder kann sich eigene Gefühle leisten. Nicht jeder darf sich Gefühle leisten. Sie wollen nicht. Zumindest vorerst nicht mehr. Es ist besser so, haben sie gesagt. Doch Cleo hat Zweifel. Sie war schon immer die vernünftige große Schwester. Paul der draufgängerische, unwesentlich jüngere Bruder. Sie wussten nicht mehr, wie alt sie eigentlich waren. Das spielte schon zu lange keine Rolle mehr. Genau genommen spielte fast nichts eine Rolle. Damals, als sie noch an der Küste lebten und jedes Wochenende in Brighton waren, damals gab es noch ein paar Dinge, die von gewisser Wichtigkeit waren. Aber das war vorbei. Irgendwann kam der Zug nach London und dann waren sie hier. Es musste während der Zugfahrt passiert sein. Auf Zugfahrten geschieht nur allzu oft Seltsames.

„Woran denkst du?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob wir das wirklich tun sollten.“

„Was meinst du mit sicher? Du weißt genauso gut wie ich, dass nie irgendwas wirklich sicher ist. Außer möglicherweise die Unpünktlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel, doch die tut nichts zur Sache. Wir sollten.“

Obwohl er der jüngere war – es fiel auf, doch nur bei genauem Hinsehen, flüchtige Beobachter hätten die Altershierarchie von Paul und Cleo auch durchaus verwechseln können – hatte Paul schon immer die Rolle des Durchsetzers inne. Er entschied nie allein, aber wenn etwas entschieden war, sorgte er dafür, dass es so gemacht wurde.

„Wir sollten langsam einen Platz für die Nacht finden. Der Bahnhof macht mir ein wenig Angst.“

Es waren diese Sätze, die Cleo in den Wahnsinn trieben. Sie wusste genau, dass er nicht das gesagt hat, was er eigentlich meinte. Sie wusste auch nur zu gut, dass sie nicht fragen brauchte. Diesmal wollte sie nicht wissen, was eigentlich war. Immer alles wissen zu wollen macht am Ende immer alles nur schlimmer. Cleo stand einfach auf und ging in Richtung Ausgang. Es sollte das letzte Mal sein, dass sie den Bahnhof von innen sah.

Paul hatte irgendwann von Camden gehört. Von den Plattenläden und dem Markt. Von dem Leben, was dort wohl noch nicht von den Gefühlen getrennt war, was noch wahr war. Gefühle sind viel mächtiger als das Leben. Sie gingen einfach los. Ziel: Camden Town. Ankunft: Ungewiss. Vorbei an endlosen Reihen Backsteinbauten. Nach einer Weile bemerkte Cleo, dass die Ladeneingänge kleiner wurden, die Menschen dafür umso größere Freude ausstrahlten.

„Wir sind auf dem richtigen Weg.“
„Wir sind auf dem richtigen Weg.“
„Wann werden wir wohl ankommen?“
„Wollen wir ankommen?“

Darauf wusste Cleo keine Antwort. Überhaupt wusste sie in letzter Zeit viel zu selten Antworten auf die Fragen, die sie von ihrem Bruder gestellt bekam. Vielleicht lag das daran, dass sie immer alles Wissen teilten, das sie gar keine Antwort auf eine Frage von ihm wissen konnte, weil sie nicht ein Fünkchen mehr wusste als er.

Sie redeten nicht viel. Irgendwann hatten sie gelernt, dass es nichts bringt einfach nur zu Reden um sich vorzumachen, dass man sich etwas zu sagen hat. Wem vormachen? Sich? Sie brauchten sich nichts vorzumachen. Sie wussten, dass Worte manchmal nichts sagen können. Sie wollten herausfinden, warum.

„Wir hätten auch die Tube benutzen können.“
„Nein.“

Natürlich hätten sie nicht mit der Tube fahren können. Paul wunderte sich, wie Cleo immer wieder auf solche Ideen kam. Es ging doch gerade darum, herauszufinden warum. Wenn man etwas herausfinden will muss man auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Da kann man doch nicht einfach eine Abkürzung nehmen und unter dem Boden hinwegfahren.


In der Ferne hörten sie Menschen. Umgeben waren sie auch von Menschen. Doch diese sagten nichts. Das bisschen Massengemurmel, was sie erzeugten war kaum wahrnehmbar. Einzig, sie konnten noch nicht sicher sein, was sie erwarten würde, wenn sie ihr Ziel erreichen. Der Glaube daran, dass die Hoffnung wirklich zuletzt stirbt, trieb sie weiter in Richtung Camden.

„Hör auf.“
„Lass mich.“

Cleo konnte nicht davon ablassen, anderen Leuten so tief in die Augen zu sehen, dass diese vollkommen verwirrt wurden. Paul fand das eine Weile ganz amüsant, aber jetzt, wo sie ihrem Ziel immer näher kamen, wollte er, dass sie sich ihrer Aufgabe widmete. Manchmal zweifelte er daran, der jüngere Bruder zu sein.


  • Published in September 2010
  • First released on August 28, 2010
  • 780 words