Meandering Soul

This day is done, I'm going home.
eFranes Penguin Avatar

Zeit

Dann soll es in Ordnung sein. Was dabei in Ordnung ist, spielt keine große Rolle. Hauptsache, man kann sich dekadent in einen Sessel fallen lassen und mit einem Glas Wein in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand “Weißt Du, im Grunde ist alles in Ordnung” sagen. Du würdest etwa einen Meter entfernt sitzen, auf der anderen Seite des Tisches, in einem exakt identischen Sessel, ebenso mit Wein und Zigarette. Deine Zigarette wäre nicht angezündet. Du warst schon immer der Klischeesuchende, geradezu zwanghaft jedes Detail im Leben anordnen wollend, als ob jeder Moment ein Diorama in der Alten Nationalgalerie wäre.

Aber das Leben ist genausowenig eine endlose Kette von aufgehangenen Bildern, wie es kein Kinofilm ist. Ich habe lange gebraucht, um dies zu verstehen. Und doch habe ich es bisher nicht geschafft, dir das begreiflich machen zu können. Du bleibst gefangen in deiner Zeitschleife und ich schaue in Sepiafärbung zurück auf die Tage, an denen wir anfingen in unterschiedlicher Geschwindigkeit zu leben. Korrekter: An denen ich mein Leben beschleunigte und du stehen bliebst. Du hast dein Leben im Hier und Jetzt eingetauscht gegen das Leben der Bücher und Malereien, das Leben der Schweigenden, derer, die sich nicht mehr wehren können gegen Deine Gier alles beurteilen zu müssen, in alles denunzierend zu intepretieren. Es gibt angenehmere Zwangsneurosen.

Es hätte alles ganz anders kommen können. Weißt Du noch? Damals, als wir gerade Siebzehn waren und unter der Eiche auf der anderen Seite des Feldes den alten Mann sahen? Ich habe mich oft gefragt, warum wir unbedingt zu ihm gehen mussten. Sicher, wir waren jung. Wir dachten, wir würden die Welt mit dem Daumen halten können, so wie es Basketballer tun, wenn sie mit ihrer Welt spielen. Keiner von uns hatte jemals auch nur einen Basketball in der Hand gehalten. Wir waren Sport so elegant ausgewichen, wie man Sport nur ausweichen kann, wenn man in einer Großstadt wie dieser aufwächst. Daher wussten wir nicht, wie schwer es ist, den Ball auch nur eine Achtelsekunde auf dem Daumen zu halten. Noch weniger wussten wir davon, wie schnell er sich dreht, wenn er dort bleibt, wo er bleiben soll.

Wir standen. Regungslos. Besinnungslos. Ich habe bis heute nicht ergründen können, was auf den Metern vor der Eiche passierte. Wahrscheinlich werde ich es nie verstehen. Höchstwahrscheinlich ist das auch gut so. Arvijd steht noch heute ungebrochen neben der Eiche, wie ein Fels in der Brandung. Zumindest, wenn ich die Augen schließe. “Die Zeit steht still für den, der geht und rennt vor dem, der steht” hatte er uns mit geradezu gespenstig ruhiger Stimme entgegen als er sah, dass wir ihn bemerkt hatten. Ich konnte mich nicht halten. Ich hatte Angst. Ich lief weg. Du bliebst.

Später hast Du mir einen langen Brief geschrieben. Es war der erste Brief, den Du mir geschrieben hast. Es war der einzige Brief, den du je geschrieben hast. Du hast versucht, mir zu erklären, was Arvijd gesagt hat. Du. Dabei konntest Du das gar nicht. Die Zeit hatte Dich schon verlassen. Einzig die standhaftesten Eigenschaften einer Persönlichkeit werden nicht vom steten Fluss der Zeit mitgerissen. Du warst schon immer derjenige von uns, der den Blick zurück gerichtet hatte. Ich habe dir immer Don't look back in Anger vorgespielt und bin weggelaufen. Nach vorne. Lieber wollte ich tausendmal von unbekannt Neuem verschreckt werden, als mir länger als zwingend nötig Gedanken über Vergangenes zu machen.

Als Du anfingst, Tagebuch zu schreiben, nahmst Du mich in den Zeilenzwischenräumen gefangen. Erst haben wir beide das nicht gemerkt, doch als es uns auffiel, war es zu spät. So war ich gebunden, für immer, stehen zu bleiben und zugleich weiter zu gehen. In der Zeit zu reisen, wenn auch nur in dem kleinen Raum zwischen deinen Worten, bestimmt mich. Du hast von all dem, was all die Jahre passiert ist, nicht viel mitbekommen. Ich würde gerne wissen, wie du es geschafft hast, die vielen tausend Seiten zu füllen, die sich um deinen Sessel stapeln. Deine Augen könnten Geschichten erzählen. Gibst Du diesen Geschichten eine Heimat?

  • Published in February 2012
  • 670 words